Direct Mailers Roundtable

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Wie staatstreue Werber den Leser verspotten

5. Januar 2006

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Direct Mailer’s Roundtable
peterjuergenbeck@coin-sl.com

WIE OBRIGKEITSNAHE PUBLIZISTIK IHRE LESER VERSPOTTET

EIN DRASTISCHES BEISPIEL AUS DER KAMPAGNE
»DU BIST DEUTSCHLAND«

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Liebe Leserin, lieber Leser,

eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, im »Direct-Mailer’s Roundtable« nie was über Politik zu schreiben - und über diese unsäglich veralbernde Aktion »Du bist Deutschland« (produziert von 20 Medienunternehmen) schon gar nicht…

Was ich aber in der letzten Ausgabe des stern, Ausgabe Nr. 1, las, ist einfach zu provozierend - und ich kenne die Hintergründe zu dieser Du-bist-Deutschland-Verarsche auf der Doppelseiten 158/159 einfach zu gut.

Ich kennen sie aus bitteren Erfahrungen, die Freunde von mir machen mussten.

Lesen Sie bitte erst mal, was in diesem doppelseitigen Inserat steht. Es wird Ihnen erst nur wie harmloser Unsinn vorkommen. Ich erkläre Ihnen dann die hämische Verarsche.

Also…

Zu Familienfesten bringt niemand mehr eine Kamera mit, da du sowieso die schönsten Bilder schiesst? Dann mach doch etwas aus deinem Talent. Vielleicht liegt zwischen dir und deinem Traum nur ein Graben aus fehlendem Mut. Wenn du den überquerst, fotografierst du bald nicht mehr deine Tanten, sondern die schönsten Frauen der Welt.

Du bist Deutschland
Du bist Helmut Newton

So, so, da liegt also »nur ein Graben aus fehlendem Mut«. Ich mach’s kurz…

Helmut Newton hätte sich in Deutschland bis vor 2 Jahren gar nicht Fotograf nennen dürfen. Schon gar nicht hätte er in Deutschland gewerblich als Fotograf arbeiten und Fotos verkaufen dürfen.

Dazu hätte er nämlich einen Meisterbrief gebraucht.

Sogar ein Absolvent der renommierten Folkwang-Schule in Essen durfte sich nicht Fotograf nennen. Fotografiestudium-Absolventen durften sich nur Foto-Designer nennen.

Sie durften künstlerisch arbeiten. Oder journalistisch/publizistisch (zum Beispiel für Werbung). Aber nicht gewerblich. Das heisst:

Diese Foto-Designer durften keine Aufträge der Form annehmen: »Bitte fotografieren Sie die Hochzeit meiner Tochter. Ich zahle Ihnen dafür 2.000 Euro oder 5 Euro pro Foto.«

Solche Aufträge durfte im deutschen Sozialismus nur ein »Fotograf« übernehmen.

Und der Titel Fotograf war in Deutschland von der Obrigkeit geschützt - beziehungsweise in Beschlag genommen. Konfisziert.

Ein Fotograf durfte sich nicht Fotograf nennen. Selbst dann nicht, wenn er so super fotografiert wie Helmut Newton…

Wollte Helmut Newton in Deutschland ein Studio eröffnen, in dem sich Frauen fotografieren lassen und dafür bezahlen, hätte er erst eine dreijährige Lehre machen, dann sich 6 Jahre lang als Fotografen-Geselle beschäftigen lassen, dann die Meisterprüfung absolvieren müssen.

Ein Weg, der praktisch nicht durchführbar war: Wo gibt’s denn schon noch Lehrstellen für Fotografen? Wer nimmt einen Lehrling über 30?

Helmut Newton hätte hoffen müssen, dass ihn ein Dorffotograf anstellt, wo er dann das Labor schruppen, Fotos entwickeln und das Fotoarchiv aufräumen darf.

Ich bin mit Fotojournalisten befreundet, die in Deutschland Fürchterliches durchmachten…

Da sind Top-Profis dabei, die auf Hochzeiten von Königen und Weltstars fotografierten. Porträts von Pabst, Präsidenten und Popstars fotografierten.

Hatten diese Profis bei Zeitungen und Zeitschriften mal eine Auftragsflaute, waren die auf Arbeits- und Sozialamt angewiesen.

In ihrem Beruf als Fotograf durften diese Profi-Fotografen nicht arbeiten.

Wenn da also jemand kam und sagte, »schiess mir doch bitte schnell mal ein Passfoto, ich geb’ dir dafür einen Fuffi«, mussten diese Profis dazu nein sagen.

Nahmen diese Profis nämlich so einen Auftrag an und die Stasi kam dahinter, gab’s einen saftigen Bussgeldbescheid von der Handwerkskammer.

Halt, da gab’s noch einen kleinen Ausweg. So eine Art Wilhelm-Tellschem Gessler-Hut-Ritual, mit dem die Obrigkeit ihre Untertanen demütigte und schikanierte…

Die Sozis akzeptierten nämlich, dass es in Deutschland ja in vielen U-Bahn-Stationen Passfoto-Automaten gibt. Die dürfen Fotos schiessen und verkaufen, haben aber keinen Meisterbrief.

Also durften sich menschliche Fotografen zum Affen – beziehungsweise Automaten — machen:

Sie durften ein Fotostudio eröffenen, mussten dabei aber einen Passautomaten genau simulieren.

Das heisst…

Der Stuhl, auf dem die zu fotografierende Person sitzt, musste fest am Boden verankert sein. Genauso die Beleuchtung. Und genauso das Kamera-Stativ.

Damit’s wirklich demütigend wird…

Die Profis durften beim Fotografieren nicht ihre geliebte Nikon, Leica oder Hasselblad verwenden. Sie durften auch nicht mit Film fotografieren. Die Staatsmacht zwang sie dazu, dass sie mit Poloroid fotografieren.

Höhnische Begründung: In Passautomaten knipst ja auch nur eine Polaroid.

Diese staatliche Willkür verhinderte, dass sich in Deutschland Menschen mit der Kamera selbständig machten.

Sie d-u-r-f-t-e-n einfach nicht. Weil’s die Obrigkeit untersagte.

In Deutschland durfte einer ohne Meisterbrief nicht einmal - wie zum Beispiel auf Mallorca - Touristen vor Sehenswürdigkeiten oder in Bars und Restaurants fotografieren.

Er durfte auch nicht auf Partys Partygäste fotografieren und denen dann die Fotos verkaufen.

Da gibt’s also keinen mysteriösen »Graben aus fehlendem Mut«, sondern eine konkrete Hürde aus Bürokratie, Engstirnigkeit und menschlicher Verachtung.

Erst unterdrückt die Obrigkeit ihre Untertanen - und dann wirft sie ihnen fehlenden Mut vor.

Da durfte ein Helmut Newton ohne Meisterbrief nicht den Auftrag eines Unternehmens annehmen: »Fotografieren Sie doch bitte mal unsere neue Montage-Anlage«.

Es sei denn, die Fotos waren ausschliesslich für künstlerische oder journalistische/publizistische Zwecke bestimmt. Für künstlerische Zwecke durfte der Fotograf z.B nicht v-i-e-l-e Exemplare von ein und dem selben Foto verkaufen.

Was dann sonst noch als künstlerisch oder gewerblich galt, bestimmte dann die staatlich beauftragte Zensurbehörde (Handwerkskammer).

Okay, das ist nun abgeschaffte. Am 1. Januar 2004 wurde für Fotografen in Deutschland die Gewerbefreiheit eingeführt.

Aber, dass man sich 2 Jahre später über die damals geschundenen Fotografen lustig macht, sie öffentlich verspottet - sie als Zauderer und Feiglinge an den Pranger stellt, ist eine Riesensauerei.

Es wurden Karrieren zerstört, Lebenswege und die Erfüllung von Träumen ruiniert.

Keiner der Verantwortlichen hat sich jemals bei diesen Fotografen entschuldigt. Keiner wurde zur Rechenschaft gezogen.

Die Demütigung geht sogar noch weiter: Nach wie vor müssen sich Fotografen bei der damaligen Kontrollbehörde in die Handwerkerrolle eintragen lassen - und dafür auch noch zahlen.

So, genug von Politik. Wollen Sie mehr über deutsche Politik wissen, lesen Sie einfach »Farm der Tiere« von George Orwell.

Ich hoffe nur, dass die Obrigkeit das Volk nicht so lange unterdrückt und demütigt, bis immer mehr und mehr Menschen auf den Revoluzzer-Gedanken hier kommen:

»Du bist Deutschland. Du bist Che Guevara«

Viele Grüsse, Ihr

Peter J. Beck
Mailing-Texter
Coin S.L.
www.coin-sl.com/texter

PS: Wie viel Praxisferne hinter dieser Du-bist-Deutschland-Anzeige steht, sehen Sie auch daran: »Wenn du den überquerst, fotografierst du bald nicht mehr deine Tanten, sondern die schönsten Frauen der Welt.«

Ich meine, für einen exzellenten Reportage-Fotografen sind Tanten auf einem Familienfest oft eine spannendere Herausforderung.

PPS: Ich sprach oben von obrigkeitsnaher Publizistik: Anders als zum Beispiel beim Klassenfeind USA werden in Deutschland Journalisten vom Staat ausgebildet.

Diejenigen, die also den Staat kontrollieren sollen, werden vom Staat ausgebildet…

…und belehren dann die Untertanen. Und nicht die Unterdrücker.

Der Staat achtet eifersüchtig darüber, dass sich im Obrigkeitsgebiet keine privaten oder gar ausländischen Universitäten ansiedeln.

Die brauchen erst eine staatliche Genehmigung. Und die gibt’s nicht so schnell.

Und wie in vielen anderen Studienfächern auch, bildet die Obrigkeit an ihren Universitäten Journalisten so praxisfern aus, dass die anschliessend nur dann eine Berufschance haben, wenn sie gleich nach dem Studium bei einer grossen Zeitung, Zeitschrift oder Fernsehstation unterkommen.

Vom Studium her fehlt ihnen die Praxis. Anders als zum Beispiel in den USA, wo Journalismus-Studenten nicht Jahre lang mit praxisfernen Theorie-Diskussionen von der Arbeit abgehalten werden, sondern schon während des Studiums Nachrichten, Reportagen, Interviews, etc. erarbeiten, die dann auch veröffentlicht werden - meist in uni-eigenen Publikationen.

Einzelkämpfer, die investigativen politischen Journalismus betreiben und die Obrigkeit spürbar kontrollieren, werden in Deutschland — anders als in den USA (zum Beispiel Columbia University, New York) — nicht herangebildet.

Die Obrigkeit ist zynisch - aber nicht dumm.

PPPS: 4 Seiten vor dieser Du-bist-Deutschland-Anzeige hat die Bundesregierung(!!!) ein Inserat geschaltet.

Unterm Titel »Gemeinsam sind wir stärker« schreibt Angela Merkel: »Liebe Bürgerinnen und Bürger, in den vergangenen Wochen und Monaten bin ich oft gefragt worden, warum ich dieses Land regieren möchte… Überraschen wir uns damit, was möglich ist und was wir können! Lassen Sie uns unser Land gemeinsam nach vorn bringen. Mit Mut und Menschlichkeit.«

Mit freundlichen Grüssen

Peter J. Beck
Mailing-Texter
Coin S.L.
peterjuergenbeck@coin-sl.com

PS: Würden Sie bitte diesen »Direct Mailer’s Roundtable« an Kollegen forwarden?

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